Ella führt was im Schilde
Abends war es nun wieder so kühl, dass man gern unter die Kuscheldecke kroch, wenn man so richtig gemütlich in seinem Buch lesen wollte.
„Der Herbst ist wunderbar, stimmt’s Ella?“, sagte Oma, rückte ihre Brille zurecht und tauchte ab in die Welt des Buches, das sie gerade las. Ich beneidete sie darum, denn mir wollte das nicht so recht gelingen. Das mit dem Lesen schon. Darin war ich Weltmeisterin wie meine Oma. Wenn ich ein tolles Buch las, konnte ich alles um mich herum vergessen, sogar das Essen, und das mag etwas heißen.
Aber das mit dem Herbst und dem Freuen, das fühlte ich nicht so dolle. Wie konnte man sich auch darauf freuen, bald wieder frieren zu müssen und nicht den Tag draußen verbringen zu können?
„Mir ist der Sommer aber lieber!“, sagte ich deshalb. „Das Freibad hat nun schon geschlossen, das ist blöd und am Abend wird es früh dunkel, das ist auch blöd. Und überhaupt, alles ist blöd!“, maulte ich und schob mir ein Weingummi in den Mund.
„Alles?“ Oma blickte von ihrem Buch auf und sah mich mit hoch erhobenen Augenbrauen an. So guckte sie immer, wenn sie etwas zu meckern hatte.
„Was ist alles?“, fragte sie. „Oder willst du sagen, dass dir nichts, aber auch wirklich gar nichts gefällt so lange, bis es wieder Sommer ist, Ella?“
„Du nicht, Oma, du bist nicht blöd!“, sagte ich, wie aus der Pistole geschossen. Oma lächelte.
„Da habe ich ja nochmal Glück gehabt! Aber sag, findest du außer mir noch etwas anderes, das nicht blöd ist?“
Ich musste grinsen. Auf diese Frage hatte ich hingearbeitet und schon ungeduldig darauf gewartet, dass Oma sie mir stellte.
„Ich wüsste da schon ‚was, was mir gefallen würde“, antwortete ich zögernd. Ich machte eine kleine Pause, sah Oma an und ließ es raus: „Apfelkuchen! Für mich … und für die ganze Klasse. Morgen. Zum Herbstfest.“
„Aha!“, Oma lachte laut auf. „Wusste ich doch, dass du etwas im Schilde führst!“
„Im Schilde führst? Was soll denn das bedeuten?“ Gespannt schaute ich Oma an. Die überlegte einen Moment und setzte dann zu einer Erklärung an.
„Die Kurzfassung, bitte!“, rief ich noch, doch da war es schon zu spät. Oma erklärte:
„Der Begriff kommt aus dem Mittelalter, damals hatten die Adligen ein Wappen, das auf ihrem Schild abgebildet war. Wenn sich jemand näherte, dann konnte man schon am Wappen erkennen, um wen es sich handelte, also Freund oder Feind!“
„So ist das also. Aber ich habe doch gar kein Schild, Oma!“
„Nein, man meint das ja auch im übertragenen Sinne. Ich konnte an deinem Kompliment erkennen, dass du etwas von mir willst – du hast also deine Absicht wie ein Schild vor dir hergetragen, verstehst du? Man könnte auch sagen, dass ich es dir an der Nasenspitze angesehen habe.“
„Hm!“ Fragend sah ich Oma an. Das war ja alles brennend interessant, denn irgendwie mochte ich alles, was mit Geschichte, besonders mit dem Mittelalter, zu tun hatte. Aber der Apfelkuchen interessierte mich gerade mehr und ich fragte nochmal vorsichtig:
„Und was ist nun mit dem Apfelkuchen, Oma?“
„Den backen wir jetzt gemeinsam!“, beschloss Oma, legte ihr Buch zur Seite und dirigierte mich in die Küche. Ich bin doch ein Glückspilz, oder?
© Regina Meier zu Verl