Schlagwörter
Großvatergeschichte, Kindergeschichte, Märchenbuchgeschichte, Seniorengeschichte, vom Gebrauchtwerden
Großvaters Märchenbuch
Dunkel lag die kleine Stadt da, in einem Fenster aber schimmerte noch Licht. Dort wohnte der alte Berti. Er saß in seinem grünen Ohrensessel und blätterte in dem dicken Märchenbuch, das er über alles liebte. Berti dachte zurück an die Zeit, als er es von seinem Großvater geschenkt bekommen hatte.
Wie schön war es gewesen, wenn der Opa daraus vorlas. Sie saßen in der Küche. Während die Oma Plätzchen backte, las der Opa mit verstellten Stimmen vor.
Berti schloss die Augen und es war, als hörte er das Knacken der Holzstücke im Ofen. Er spürte die Wärme, und der Duft der Plätzchen umschmeichelte seine Nase.
„Berti, träumst du?“ Verwirrt öffnete er die Augen. Wer hatte da gesprochen? Er war doch ganz allein in seiner Wohnung. ‚Vielleicht habe ich geträumt!‘, dachte Berti und schloss die Augen wieder. Sofort waren sie wieder da, die Gerüche aus der Kindheit. Waren das nicht Butterplätzchen, die da einen so köstlichen Duft verströmten?
Ach ja, die Oma und der Opa, mit ihnen hatte er eine schöne Kindheit gehabt. Sie waren für ihn da gewesen, wenn die Eltern arbeiten mussten.
„Berti?“ wieder hörte er diese Stimme und sah sich suchend um.
„Hier bin ich!“, sagte die Stimme leise. Berti setzte seine Brille auf und schaute sich suchend im Zimmer um.
„Wer bist du denn und wo bist du?“, fragte er vorsichtig
„Hier bin ich, in deinem Märchenbuch, direkt vor dir!“, antwortete die Stimme.
Berti schaute das Buch auf seinem Schoß an. Das Märchen von Hänsel und Gretel war aufgeschlagen und dann sah Berti es auf dem Bild, das zu jedem Märchen gezeichnet war. Der Hänsel winkte ihm zu. Er saß in seinem Ställchen und seine Augen waren angsterfüllt.
„Hänsel, hast du da eben mit mir gesprochen?“ fragte Berti vorsichtig.
„Natürlich und ich bin so froh, dass du mich hören kannst. Ich brauche deine Hilfe. Die böse Hexe hat mich hier gefangen. Sie will mich mästen und dann aufessen. Ich habe große Angst.“
Dicke Tränen kullerten aus seinen Augen.
„Nana, nun sei mal nicht so verzagt. Ich kenne deine Geschichte und weiß, dass dir nichts passieren wird. Deine Schwester Gretel ist nämlich ein sehr kluges Mädchen und wird euch retten.“
„Bist du sicher?“ Noch immer klang Hänsels Stimme sehr verzagt.
„Ganz sicher, mein Opa hat mir die Geschichte so oft vorgelesen. Ich kenne sie auswendig.“
„Dann will ich dir glauben.“
Berti konnte nicht fassen, was da gerade passiert war. Aber er war doch nicht von allen Sinnen verlassen, auch wenn er mittlerweile ein alter Mann war. Sein Enkel würde ihm das nicht abnehmen, wenn er ihm davon erzählen würde. Er würde es ihm sagen, denn aus dem kleinen Fabian war ja mittlerweile selbst ein Mann geworden. Eigentlich war niemand mehr da, dem er die Märchen vorlesen konnte. Berti wurde immer trauriger.
Um sich abzulenken, blätterte er weiter in dem Märchenbuch.
Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, wenn sein Opa das vorgelesen hatte, war Berti immer traurig gewesen. Zu gerne hätte er dem kleinen Kind geholfen.
Berti fuhr sich über die Augen. Das Mädchen war erfroren, aber zuvor hatte es seine Großmutter im Himmel gesehen und war glücklich gewesen. Sein Leben hatte noch vor ihm gelegen, er selbst aber war am Ende seines Lebens angekommen. Er würde einmal genauso einsam sterben wie das Kind. Ob es ihm vorher gelingen würde, wenigstens noch ein einziges Mal glücklich zu sein? Morgen war sein Geburtstag und er war allein. Berti schlug das Märchenbuch zu, erhob sich mühsam und stellte es in das Bücherregal. Jetzt wollte er zu Bett gehen und versuchen zu schlafen.
Unruhige Träume plagten ihn und als er am Morgen die Augen aufschlug wurde ihm so richtig bewusst, wie einsam er war.
Besonders an einem solchen Tag wie heute fühlte sich das gar nicht gut an. Was Fabian, sein Enkel wohl heute machte, lange hatte er nichts mehr von ihm gehört.
Berti schlurfte in die Küche, stellte den Wasserkessel auf den Herd, säbelte sich eine Scheibe Brot ab und bestrich sie mit Butter und Marmelade. Der Kessel pfiff und mit der Tasse in der Hand ließ er sich schwerfällig auf den Küchenstuhl fallen.
Seine Gedanken schweiften in die Vergangenheit.
„Opa, ich habe dich so lieb. Wenn ich mal groß bin, dann werde ich dich immer noch lieben und ich werde immer für dich da sein!“, hatte Fabian mal gesagt und das hatte er sicher auch genauso gemeint. Nun war der Junge längst verheiratet und auch wenn er ihn, den alten Großvater nicht vergessen hatte, so hatte er doch keine Zeit für ihn. Berti verstand das, auch wenn es ihn traurig machte.
Seine Gedanken wurden durch das Klingeln des Telefons unterbrochen. Er nahm ab, hörte, was da am anderen Ende der Leitung gesprochen wurde und seine Augen füllten sich mit Tränen.
„Opa Berti, sag doch was! Dürfen wir dich heute holen?“ Das war Fabian und im Hintergrund rief seine Frau: „Du musst unbedingt bei uns sein, wir haben eine Überraschung für dich!“
Berti versuchte, etwas zu sagen, aber seine Stimme versagte.
„Gern!“, krächzte er. „So gern!“
„Also gut, dann bin ich um elf Uhr bei dir! Ich freue mich so!“, sagte Fabian noch und dann legte er auf.
Berti liefen die Tränen über das Gesicht. Sein Enkel hatte ihn nicht vergessen. Er würde ihn holen. O weh, er hatte ja gar kein Geschenk, das er mitnehmen konnte.
Oder doch? Klar, er hatte ja das Märchenbuch. Die Zeit war gekommen, es an Fabian weiterzugeben. Berti packte das Buch in einen Bogen Packpapier und in der Schublade fand er noch eine rote Schleife, die er, so gut es eben ging, um das Paket band. Zufrieden mit sich und der Welt setzte er sich in seinen Sessel und freute sich.
Später stand er aufgeregt am Fenster, das Päckchen mit dem Märchenbuch an sich gepresst.
Endlich fuhr das Auto in den Hof. Fabian kam herein und nahm ihn in die Arme.
„Komm Opa, wir machen es uns heute schön gemütlich, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag“, sagte er. Er half Berti die Treppenstufen vor dem Haus hinunter und dann fuhren beide vergnüglich plaudernd zu Fabians Zuhause, wo sie schon erwartet wurden von Christine, Fabians Frau.
Im ganzen Haus roch es verführerisch nach leckeren Sachen. Berti strahlte. Ach, wie schön war es doch, nicht allein zu sein am Geburtstag.
Als alle am Nachmittag beim Tee zusammensaßen und das gemütliche Licht der Kerzen genossen, reichte Berti seinem Enkel das verpackte Märchenbuch.
„Das ist für dich!“, sagte er und beobachtete gespannt Fabians Miene, als er sein Geschenk auspackte.
Fabian freute sich zwar, gab seinem Großvater das Buch aber sogleich zurück.
„Das geht nicht, Opa, das kann ich nicht annehmen!“, sagte er.
„Aber warum denn nicht?“, fragte Berti überrascht.
„Du wirst es noch brauchen, denn Christine und ich, wir haben doch eine Überraschung für dich!“
Berti verstand nicht, was da vor sich ging. Christine nahm seine Hände und hielt sie sanft.
„Großvater Berti, wir bekommen ein Kind, dein Urenkel und dem musst du doch vorlesen, so wie du Fabian vorgelesen hast!“
Jetzt verstand Berti. Er musste noch bleiben, er wurde noch gebraucht – ach, das war ein so schönes Gefühl, ein schöneres Geschenk hätte man ihm nicht machen können.
© Regina Meier zu Verl
Hier kannst du dir die Geschichte von mir vorlesen lassen:
Pingback: Donnerstagsgeplauder | Klatschmohnrot - von Tag zu Tag
Claudia sagte:
Liebe Regina,
da ist Dir wieder eine ganz zauberhafte und gefühlvolle Geschichte von der Feder gehüpft, ihc hatte fasr Tränchen in dne Augen! Herzlichen Dank dafür!
Ich wünsche Dir einen guten Start in ein schönes gemütliches und buntes Oktoberwochenende!
♥️ Allerliebste Grüße, Claudia ♥️
Regina (klatschmohnrot) sagte:
Herzlichen Dank, liebe Claudia! <3