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Oma Betty und die prächtigen Kastanien
Meine Oma Betty ist ein bisschen verrückt, ehrlich. Wenn sie wüsste, dass ich euch davon erzähle, dann wäre sie sicherlich zuerst verärgert, könnte später aber gemeinsam mit mir darüber lachen. Das glaube ich jedenfalls. Drauf ankommen lasse ich es lieber nicht.
Also: ich liebe ja Kastanien über alles. Wenn die Zeit gekommen ist, dass sie von den Bäumen purzeln, dann bin ich nicht mehr zu halten und sammle alle auf, die sich mir in den Weg legen. Nun ist es ja so, dass ich in die Schule muss und vor unserem Schulhof steht eine riesige Kastanie. Ich sitze aber im Klassenzimmer und ärgere mich. In den Pausen dürfen wir den Schulhof nicht verlassen. Wenn ich dann endlich raus darf, dann sind die besten Kastanien entweder von den Autos kaputtgefahren worden, oder man hat sie mir vor der Nase weggesammelt. Ärgerlich ist das!
Gestern habe ich Oma Betty mein Leid geklagt und ich konnte sehen, dass es hinter ihrer Stirn anfing zu rattern. Sie sagte aber nichts, außer: Lass mich mal machen, mein Junge!
Heute sitze ich also wieder in der Schule und denke an die begehrten Früchte in dunkelrot, die im Laufe des Vormittags wieder von der dicken Kastanie plumpsen werden. Sehnsuchtsvoll schaue ich aus dem Fenster, wir haben gerade Religion, da kann ich mir das erlauben, weil ich gut bin in Religion, das habe ich übrigen auch meiner Oma zu verdanken – aber ich schweife ab.
Ich schaue also aus dem Fenster, sehe da so ein paar Leute hin und herlaufen, bin froh über jeden, der sich nicht bückt und ebenso froh über jedes Auto, das nicht vorbeifährt. Da sehe ich plötzlich einen Hintern mit einer knallgrünen Hose und weiter unten stecken Beine in knallroten Gummistiefeln. Wie gesagt, ich sehe nur den Hintern und die Beine, aber ich weiß: das ist Oma!
Sie hat einen Korb neben sich stehen und nach und nach plumpsen etliche Kastanien in diesen Korb. Mir wir heiß vor Liebe, aber auch ein bisschen vor Scham. Wenn das mal einer sieht, peinlich ist das.
Ich beruhige mich, indem ich mir immer wieder sage: Es kennt sie doch keiner!
„Was sagtest du?“, fragt mich Frau Unruh, unsere Relilehrerin. Habe ich etwa laut gedacht? Ich laufe rot an und stammle etwas von: „Hab gar nichts gesagt, hab nur so seltsamen Husten und mich megaverschluckt und so!“
„Trink einen Schluck Wasser!“, rät Frau Unruh. Gute Idee, dann kann ich aufstehen und mich beim Gehen wieder beruhigen. Der Wasserhahn ist nämlich ganz vorn im Klassenraum. Während ich gehe, versuche ich unauffällige Blicke aus dem Fenster zu werfen. Das gelingt aber nicht, denn das Interesse meines Sitznachbarn hatte ich längst geweckt. Der macht gerade seinen Vordermann aufmerksam und dann lachen beide laut auf. „Guck mal, die Alte!“, ruft Anton und schlägt sich auf die Schenkel. „Ist vielleicht so ne Kindergartentante und will Kastanienmännchen bauen!“, kreischt Annalena.
„Ruhe!“, ruft Frau Unruh. „Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen?“
„Das sollten Sie als Religionslehrerin doch wissen, dass es keine Geister gibt, keinen guten und keine bösen!“, bemerkt Sophie vorlaut.
Mir ist etwas übel, ich stürze ein ganzes Glas Wasser herunter und dann setze ich zur Verteidigung meiner Oma an. „Das ist meine Oma Betty. Sie sammelt für mich, weil ich Kastanien so gernhabe!“, will ich sagen, es gelingt mir aber nicht, ich sage stattdessen: „Ihr seid doch alle doof!“
Dann verlasse ich den Klassenraum und setze mich vor die Tür. Nach ein paar Minuten kommt Anton, um nach mir zu sehen.
„Du sollst wieder reinkommen!“, sagt er.
Ich nicke und gehe dann wieder in die Klasse. Nachdem ich einen Blick aus dem Fenster wage und sehe, dass Oma weg ist, schellt es zur großen Pause.
Als ich mittags nach Hause komme, freue ich mich über einen riesigen Korb glänzender dunkelrotbrauner Kastanien. Ich drück meine Oma Betty ganz fest und ein Küsschen bekommt sie heute auch, sogar zwei, eines links und eines rechts.
© Regina Meier zu Verl
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